SEELEN - ALLEIN

 

 

 

 

 

Es ist die Geschichte vieler Frauen und doch ist es meine.

 

Es ist eine Geschichte, die mich und meine Tochter Paulina geprägt hat, in der Schwangerschaft ihren Ursprung hatte und uns jeden Tag begleitet.

 

 

 

 

 

Salerno, Italien, Februar 2003

 

 

 

Egal, dass es 5 Uhr morgens war und mein Mann Andreas noch schlief.

 

Ich hatte doch so lange auf diesen Moment gewartet.

 

Eine heimliche Hoffnung stellte sich in den ersten Tagen nach Ausbleiben der Regelblutung ein.

 

Ich wollte weitere vierzehn Tage mit dem Schwangerschaftstest warten,

 

ohne Andreas etwas zu sagen, um mich auf das Ergebnis verlassen zu können.

 

 

 

 

 

So begann die Geschichte mit zwei blauen Streifen und zittrigen Knien im Süden Italiens.

 

 

 

Wir hatten es nach der Hochzeit nicht eilig gehabt mit der Familienplanung.

 

Wie viele junge Paare wollten wir noch unser Leben als Paar „genießen“, arbeiteten mehr als 40 Stunden und glaubten so, dass sich auch eine Schwangerschaft im Detail und zum richtigen Moment planen ließe.

 

Dazu kommt, dass in den 90er Jahren in Süditalien Paare mit Argwohn betrachtet wurden, wenn nach mehreren Jahren Ehe immer noch kein Anzeichen eines Babybauchs erkennbar war. So wurde der Druck aus dem Freundes- und Familienkreis immer stärker.

 

 

 

Der Startschuss zur motivierten Familienplanung kam von mir.

 

So wie der Startschuss zur Hochzeit.

 

So wie ich bei vielen von mir gesetzten Initiativen nicht nachgefragt hatte, wie es um unsere Partnerschaft bestellt war, welche Gedanken bei dem Thema Vaterschaft beim Partner aufkommen könnten und ohne zu reflektieren, ob es eine gemeinsame Entscheidung war. Viel zu wenig wusste Andreas damals um meine Gedanken und mein Seelenleben und viel zu wenig konnte er mir seine sagen.

 

 

 

So beschlossen „wir“, es „einfach auf uns zukommen zu lassen“. Die Schwangerschaft, das Baby, es nicht eilig zu haben, es bis zum Tag X zu genießen und.....und nichts geschah, Meine (ich zweifle daran, dass es jemals unsere waren) Pläne gingen nicht auf. Ich wurde nicht schwanger.

 

Ich wartete, ich wartete geduldig, der Gedanke begann sich zunehmend zu fixieren. Ich las Bücher, informierte mich über Konzeption, Gründe ausbleibender Schwangerschaft und konsultierte nach zwei Jahren einen Arzt, einen Gynäkologen.

 

 

 

Nach einigen Untersuchungen war klar, dass zur weiteren Abklärung eine besondere Untersuchung

 

nötig wäre. Ein Kontrastmittel wurde durch meine Gebärmutter gejagt und die Eileiter wurden dargestellt um zu beurteilen, ob sie durchgängig seien.

 

Das waren sie.

 

 

 

Es wurde ein OP Termin fixiert. In meiner Gebärmutter befand sich ein gutartiges Gewächs, das

 

„möglicherweise die Passage des Eis behindern könnte“

 

 

 

Nach der Operation wurde ich auch nicht schwanger. Weitere Untersuchungen folgten.

 

Nichts von unseren (meinen) Träumen einer natürlichen Konzeption wurde wahr.

 

Und es hat nichts Romantisches, nur an bestimmten Tagen miteinander zu schlafen, um diesen Traum zu verwirklichen, der immer mehr zu einem Druck, einem Stressfaktor wurde.

 

 

 

„Ihr Mann hat ein pathologisches Spermiogramm“

 

Der Gynäkologe übersetzte geduldig: “Die Spermienqualität Ihres Mannes ist nicht die beste.“

 

Aminosäuren sollen den müden Zellen wieder mehr Leben einhauchen.

 

 

 

Es waren nun vier Jahre seit unserer Hochzeit vergangen. 2 Jahre seit dem Bekennen unseres (meines) Kinderwunsches...

 

 

 

Zurück zu Februar 2003

 

 

 

Das Gefühl durchflutete meinen Körper. Ich glaube, Mutter zu werden.

 

Es ist eine leise Hoffnung am Anfang.

 

„Ach, denk nicht daran, sonst bist du enttäuscht, wenn der Test doch negativ sein sollte“ , sagte ich streng zu mir.

 

Das Gefühl, ein Baby bewohne meinen Körper, wurde immer stärker. Ein Bangen und Hoffen - ein magischer Moment im Leben einer Frau. Große Freude und Angst, Neues beginnen und Altes loslassen und das Wunder des Anfangs mit der Unsicherheit, einen neuen Lebensabschnitt zu beschreiten.

 

So lebte ich mit meinen Unsicherheiten und der aufkeimenden Freude ganze zwei Wochen lang.

 

 

 

Wieder verheimlichte ich meine Gedanken, durchlebte meine Freude und meine Sorgen allein.

 

 

 

Nach vierzehn Tagen wollte ich nicht mehr warten. Wollte Gewissheit. Wartete auch nicht, bis Andreas aufstand.

 

Ich erinnere mich noch an meine Nervosität, die kalten Hände, die aufwallende Freude mit der

 

Unsicherheit, die sich in alles Neue einschleicht und die Kehle austrocknet.

 

Ich starrte auf die 2 blauen Striche am Schwangerschaftstest und verglich das positive Ergebnis immer und immer wieder mit der Anleitung im Beipacktext. Immer und immer wieder, bis ich mir sicher war, meiner Wahrnehmung trauen zu können.

 

Ich war schwanger. Was für ein Wunder, was für ein Augenblick, und so feierte ich alleine für mich diesen magischen Moment, bevor ich mich sammelte und um 5 Uhr morgens meinen Mann und baldigen Vater davon in Kenntnis setzte.

 

 

 

Liebe LeserInnen....in Ihren Köpfen wird sich vielleicht ein Bild formen:

 

Mein Mann ist außer sich vor Freude, springt aus dem Bett, umarmt mich, trägt mich ins Wohnzimmer um dort mit mir eine Runde zu tanzen, zu küssen, wie Kinder, die einen großen Wunsch erfüllt bekommen hatten......

 

Ich muss Sie enttäuschen, und spüre die Enttäuschung an den Tasten des Computers kleben.

 

Aber ich werde weiterschreiben, auch wenn es nun langsamer geht, weil ein großes Stück traurige Geschichte folgen wird.

 

 

 

Die Reaktion meines Mannes: „Wer kann nach so einer Nachricht noch schlafen“...sichtlich gerührt, aber doch distanziert, blieb er in eher regloser Position im Bett lieben.

 

Ich kuschelte mich eng an ihn, noch immer durchflutet mit dem wunderschönen Gefühl, Mutter und Eltern zu werden, nun unsere (meine) Wünsche erfüllt zu sehen.

 

Es folgten nicht mehr allzu viele Kommentare. Andreas meinte, er würde bei seinen Eltern vorbeifahren, um ihnen gleich die freudige Neuigkeit zu erzählen.

 

Viel später erst erfuhr ich, dass außer seinen Arbeitskollegen die Zollarbeiter und das halbe Hafenviertel zu Kaffee und Kuchen eingeladen worden waren und mein Mann diesen Tag mit ihnen gefeiert hatte.

 

 

 

Andreas und ich feierten nicht.

 

Es folgte eine Zeit, in der sich sein Verhalten mir gegenüber änderte.

 

 

 

Zuerst interpretierte ich die distanzierte Kühle, die er plötzlich ausstrahlte, als Sorge um den Ausgang der so frühen Schwangerschaft.

 

„Wir müssen erst in die Situation hinein wachsen...“

 

„Die Nachricht einer Vaterschaft kann Andreas gefordert oder sogar verunsichert haben...“

 

„Er kann seine Freude nicht zeigen...“

 

 

 

So tröstete ich mich eine Zeit darüber hinweg, bis er in den ersten Wochen der Schwangerschaft meinte, Sexualität sei jetzt kein Thema mehr.

 

Er könne das Gefühl einer neuen Präsenz nicht mit Lust und körperlicher Leidenschaft verbinden um „im Beisein des Kindes mit mir zu schlafen...“

 

 

 

Plötzlich war ich keine Frau mehr. Nicht mehr seine Sexualpartnerin. Nur noch Mutter?

 

Der Gedanke zog mir den Boden unter den Füßen weg.

 

Was sollte das bedeuten? Neun Monate und die Monate des Wochenbetts ohne sexuelle Nähe verbringen?

 

Was machte das mit unserer Beziehung, unserer Ehe?

 

Wie sollen wir damit umgehen?

 

Wie steht es generell um unsere Beziehung?

 

 

 

Ich war so verwirrt von den Ereignissen und den Umständen, die sich in eine Richtung entwickelten, die an Vorhersehbarkeit verloren hatte.

 

 

 

Jemand Neuer zog bei mir in die Via Cantarella ein: Die Angst.

 

Die Angst war nun mein neuer Partner. Sie kam beim Aufstehen, begleitete mich zum wortkargen Frühstückstisch und in meine Gespräche mit meinem Mann.

 

Ganz langsam aber merklich wurde er immer verschlossener. Anfangs kam er noch zum Abendessen.

 

Später kam er um Mitternacht.

 

Er war telefonisch nicht immer erreichbar. Dann war sie sehr nahe – die Angst.

 

 

 

Mein Kommunikationsstil war anfangs einfühlsam. Ich wollte verstehen, dass die Nachricht einer bevorstehenden Vaterschaft auch verarbeitet werden muss. Vor allem, weil wir (ich) lange auf ein Kind gewartet habe(n).

 

Später flehend. Besonders wenn die Angst mir ihre Krallen zeigte, was noch alles passieren könne.

 

Ich weinte, tobte, beruhigte mich wieder, erklärte, analysierte, diskutierte, wartete......

 

 

 

Andreas verwehrte mir den Zugang zu seinem Inneren. Kein Gespräch, keine Tränen, nichts konnte ihm ein Wort entlocken, was in ihm vorgehe, warum er nicht mehr nach der Arbeit nach Hause kam, warum er mich nicht mehr umarmte, warum er nicht mehr anwesend war. Warum konnten wir nicht miteinander reden, was war nur passiert?

 

 

 

Ich zog aus dem Schlafzimmer aus, und mit der Angst in ein Zimmer.

 

So konnte ich sicher sein, dass sie mich nicht aus dem Schlaf riss während ich neben einem Mann lag, der mir immer fremder wurde. Er trug mittlerweile einen Vollbart, trainierte seinen Körper und hatte stark abgenommen.

 

 

 

Lange ließ die Wut auf sich warten. Die Angst versperrte ihr den Weg. Ich verteidigte meinen Mann immer. Instinktiv wusste ich auch damals, dass sein Verhalten nicht nur das von einem werdenden Vater, sondern von einem kranken Menschen war.

 

 

 

 

 

Juni 2003

 

Ich hatte gekocht und als Andreas um 21 Uhr wie vereinbart nicht zum Abendessen erschien, nahm endlich die Wut den Platz der Angst ein.

 

Wut macht aktiv.

 

Sie befreit aus der Starre.

 

Mit ihrer Hilfe versuchte ich alle meine Kräfte zu mobilisieren, um Andreas aus seiner vermeintlichen Blindheit und Leere herauszuhelfen.

 

Mit dem Vorwand einer Blutung fuhr ich wie blind ins nächstgelegene Krankenhaus und gab dort stechende Schmerzen an. Ich war ca, in 20. Schwangerschaftswoche. Nach dem Ultraschall war klar, dass ich und mein Kind gesund waren. Ohnmächtig wollte ich Andreas die Angst spüren lassen, die mich seit Wochen begleitete. Er und seine Eltern holten mich dort ab. Meine Schwiegereltern wussten über meinen Plan Bescheid und ich erkannte, wie sehr sie ihre Enttäuschung und ihren Zorn im Zaum halten wollten.

 

 

 

Es folgte eine lange Nacht der Gespräche.

 

Und der Anklagen gegen Andreas. Dass er sich nicht um uns kümmere, nicht nach Hause käme, keine Verantwortung zeige, sich nicht vorstellen könne, wie verletzend die Situation für mich wäre... Aber auch dieser Plan, Andreas aus seiner Starre zu lösen, ging schief. So saß er stumm da und ließ den Regen an Vorwürfen über sich ergehen.

 

Wir entschieden uns, Hilfe anzunehmen.

 

 

 

Juli 2003

 

 

 

Wir hatten keine Erfahrungen mit Therapieformen und psychologischen Beratungen und verließen uns auf die Empfehlung eines Arztes, der ein Freund der Familie war.

 

Wir machten keine Paartherapie, sondern hatten Einzelsitzungen. Zur Fremdanamnese wurde einmal meine Schwiegermutter eingeladen. Beide Schwiegereltern standen mir immer sehr nahe und halfen mir sehr in dieser schweren Zeit. Vor allem wenn ich viel alleine war machten sie sich Sorgen und wir verbrachten die Abende gemeinsam, um immer wieder nach dem Warum zu fragen, was die Situation so entgleisen hatte lassen.

 

 

 

Nach der ersten Sitzung war mir klar, dass der Therapeut keine Hilfe sein würde.

 

In pessimistischer Haltung beschrieb er unsere Ehe in einer schweren Krise, gab mir aber keinen Halt, um die nächsten Wochen zu überstehen. Orientierungslos, mit meinem immer runder werdenden Bauch, wünschte immer wieder, dass alles nur ein Traum wäre.

 

 

 

In dieser Zeit, lernte ich zu beten.

 

 

 

Ich teilte mir ein Einzelbett mit meiner Angst und wenn sie darauf bestand, den ganzen Raum auszufüllen, begann ich nachts zu beten.

 

Ich betete, dass mein Leben in Italien so bleiben möge. Ich wohnte nun schon 10 Jahre in der Stadt am Meer, hatte Freunde, Arbeit und Familie in Salerno. Ich hatte meinen Beruf gewechselt, einen neuen gelernt, mich angepasst, zurechtgebogen für ein Leben im Ausland. Ich wollte dazugehören und nun sah ich, wie an den Fassaden dieses schönen Konstruktes die Angst anfing, daran zu nagen.

 

 

 

Ich betete, dass ich die Zeit bis zur Geburt durchstehen könne. Ich betete, dass es aufhören solle, das Gefühl, dass alles, was mir wichtig war, zwischen meinen Fingern zerrinnt. Die Angst saß dabei und streichelte meinen Kopf. Sie würde mich auch in die Geburt begleiten, meinte sie leise.

 

 

 

Auch während der Therapie änderte sich nichts an unserer Not. Andreas bekam den therapeutischen Auftrag, sich ganz auf sich zu konzentrieren und seinen Wünschen nichts entgegenzustellen.

 

Um sich selber schneller klar zu werden?

 

Ich konnte dem Ansatz der psychologischen Betreuung nicht folgen und fühlte mich auch im Setting mit der jungen Assistentin nicht gut aufgehoben. Alle sprachen von schwerer Ehekrise - das wollte ich nicht hören.

 

Und wenn es schon so wäre, was kann ich tun?

 

Wie soll ich mich verhalten...und wie soll ich mit Andreas reden?

 

Bangen und Hoffen wechselten schnell und alles war erträglich, solange Tageslicht und Leute mich umgaben. Abends, allein in meinem Bett kam die Angst und schlang ihre kalten Gliedmaßen um meinen runden Körper.

 

 

 

Ich hatte kaum Zeit, die Veränderungen wahrzunehmen. Ich wusste nicht, ob ich mich schön finden sollte. War doch das wichtigste Gegenüber weggebrochen. Ich und mein ungeborenes Kind standen immer mehr vor den Trümmern einer Ehe, einer Beziehung und dazu auch noch das Gefühl der Spannung vor der herannahenden Geburt.

 

Um mich besser vorzubereiten, besuchte ich einen Geburtsvorbereitungskurs und suchte mir

 

eine Hebamme zu der ich Vertrauen hatte. Carmen würde mich noch durch viele schwere Stunden begleiten.

 

 

 

August 2003

 

Andreas und ich redeten kaum noch miteinander. Die Wochenenden verbrachte er mit Freunden, ich mit seinen Eltern. Der Geburtstermin rückte immer näher. Er war für Mitte Oktober berechnet worden.

 

Ich beschloss, die Ferien in Bozen mit meiner Mutter, meiner Schwester und ihrer Familie zu verbringen. Weg von meiner Angst, dem Einzelbett im unvollständigen Kinderzimmer, weg von Hitze, Stadt und Spannungen.

 

In Bozen angekommen half mir ein Mann mit meinen Koffern. Am Bahnsteig winkte mir meine Angst von weitem zu. Sie war schneller als ich....

 

 

 

Ich verbrachte drei Wochen Urlaubszeit mit meiner österreichischen Familie.

 

Ich wahrte den Schein.

 

Seit Beginn unserer Krise im Februar gab ich vor, die glücklichste Mutter und Partnerin zu sein.

 

Wie um Himmels Willen sollte ich erklären, dass ich zusehen konnte, wie das Fundament meiner Ehe zerbröckelte?

 

Dass ich nicht glücklich war, mich nicht auf unser Kind freuen konnte, weil meine Angst nun in jeder Ecke meines Zuhauses saß, sich breit machte, jeden Winkel meiner Seele kannte und Hoffnung kaum mehr zuließ.

 

Nein ich log mich durch den Alltag. Kaschierte meine Ringe unter den Augen, straffte meinen Gang

 

um jeden Tag neu zu beginnen und immer wieder aufs Neue zu hoffen.

 

So log ich auch vor meiner Familie, um nicht mit Fragen bedrängt zu werden, um nicht wieder im Kopf meine Geschichten durchspielen zu müssen, um der Angst eins auszuwischen.

 

 

 

Im achten Monat der Schwangerschaft.....

 

Ich fuhr mit dem Zug nach Hause. Es war September und die ärgste Hitze war überstanden. Ich hoffte so sehr, dass die drei Wochen Abstand auch meinem Mann helfen würden. Ich wünschte mir so sehr, dass er mich umarmen würde, dass er mir sagen würde, dass er uns vermisst hätte und wir weinend eine Zeit am Bahnsteig gestanden hätten.

 

Aber so wie alles anders wurde in diesen Monaten, war auch seine Reaktion auf meine Wiederkehr nicht vorhersehbar und grub sich tief in mein schon verletztes Selbstbewusstsein.

 

Auf meine Frage hin, ob Andreas diese Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben, ein Stück Klarheit gebracht hätten war die Antwort:

 

„Ich habe bemerkt, dass Deine Rückkehr nur noch belastender ist als Deine Abwesenheit.“

 

Ich stand vor einem Abgrund.

 

 

 

Ich sah mich schon in den nächsten Zug Richtung Österreich steigen, verwarf aber sofort den Gedanken daran, da ich meine Geburt im Süden Italiens gut organisiert hatte.

 

Ich suchte eine kleine Klinik aus, mit guten Referenzen und wo es erlaubt war, die Wahlhebamme zur Unterstützung mitzunehmen.

 

 

 

Ohnmächtig starrte ich auf die Scherben meines Tagtraums, meiner Hoffnung.

 

 

 

Die ersten Wehen erlebte ich wie eine massive Bedrohung. Wie sollte ich nach dieser Zeit noch eine Geburt schaffen? Angst verstärkt den Schmerz. Angst verstärkt die Angst. Angst vor der Angst.

 

Meine Hebamme verbrachte viele lange Stunden mit mir in meinem Zuhause, das mir immer fremder wurde, wie der Mann an meiner Seite, den ich so vermisste.

 

 

 

So kämpfte ich weiter mit Carmen durch den Tag und die kommende Nacht. Mein Mann konnte mir in dieser Zeit nicht beistehen. Heute weiß ich, dass er seine große Not nicht zeigen konnte, ja selber gar nicht richtig wahrnehmen oder in Worte fassen konnte.

 

So waren Andreas und ich seelen - alleine mit dem Wunder der Geburt......

 

 

 

 

 

 

 

Das Ende?

 

 

 

 

 

Meine Tochter und ich sind in dieser schweren Zeit alleine weitergegangen.

 

Der Kontakt zu unserer früheren „Heimat“ Italien ist nie abgerissen und aus der Wut wurde Trauer, aus der Trauer Versöhnung und viele Ressourcen, die Paulina und mich durch unser Leben tragen.

 

 

 

 

 

Zeit heilt.

 

Auch wenn es schwer ist, abzuwarten.

 

Abzuwarten, dass sich die Trauer verwandelt.

 

 

 

Ich habe das Ziel der Trauer nicht erkannt: Sie hat mich empathisch gemacht.

 

Ich habe das Ziel der Angst nicht erkannt: Sie lässt mich reflektieren

 

Ich habe das Ziel der Angst nicht erkannt: Sie lässt mich aktiv werden und die Angst vergessen.

 

 

 

Ohne professionelle Hilfe hätte dieses Erkennen sehr viel länger gedauert.

 

Danke an alle, die mich durch diese Zeit begleitet haben.

 

 

 

Ein besonderes Dankeschön möchte ich meinem Mann Thomas aussprechen!

 

Er ist der Anker der Familie.

 

Durch ihn erfahren meine beiden Töchter und ich, was Sicherheit und Stabilität bedeuten.

 

Er ist mein Spiegel und meine Reflexion.

 

Ihn durfte ich kennenlernen, als Paulina vier Jahre war.

 

Seitdem unterstützt er mich und alle Familienmitglieder in dem, was uns wichtig ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und Paulina?

 

 

 

Meine heute vierzehnjährige Tochter ist sehr feinfühlig.

 

Ihre große Gabe ist es, soziale Zusammenhänge zu verstehen und ihr Kommunikationsstil ist für ihr Alter außergewöhnlich diplomatisch.

 

Paulina hat eine rege Fantasie und kann ihre Gefühle gut artikulieren.

 

Als Kleinkind war sie ängstlich und auch in der Volksschule fühlte sie sich nicht wohl.

 

(Meine Angst in der Schwangerschaft hatte ihre Spuren hinterlassen.)

 

Mit zunehmenden Alter erkannte sie aber, dass ihre Angst sie zwar vorsichtig machte, aber auch schützte und dass Paulina deswegen nicht anders oder krank sei.

 

Gespräche mit Psychologen ergaben, dass Paulina keine Therapie braucht und keine Störung oder Erkrankung vorliegt. Sie ist eine wunderbare große Schwester!

 

 

 

 

 

 

 

Und Andreas?

 

 

 

Andreas durchlebte zwei schwierige Jahre, ohne zu erkennen, dass ihm seine Familie verloren gegangen ist. Ohne professionelle Begleitung fiel es ihm schwer, einen neuen Weg zu finden.

 

Es ist ihm nicht klar, was genau diese Episode in seinem Leben ausgelöst haben könnte und auch heute ist es schwer, mit ihm darüber zu reden.

 

Es tat ihm unendlich leid, als er erkannte, dass es keine gemeinsame Zunkunft mit mir geben würde.

 

Er beschrieb es einmal mit folgenden Worten:

 

Als Licht im Tunnel war, erkannte ich, dass es zu spät war.“

 

 

 

 

 

 

 

Was ich daraus gemacht habe?

 

 

 

Heute arbeite ich mit jungen Müttern und Familien nach der Geburt und bin überzeugt, dass ich durch meine Erfahrungen liebevoll auf mögliche Konflikte hinweisen kann und die neuen Eltern in ihren Kompetenzen gut stärken kann:

 

 

 

Ihre Kompetenzen, sich vor und während der Schwangerschaft nicht aus den Augen zu verlieren,

 

viele Gespräche darüber zu führen, wie sich beide Elternteile fühlen und worüber sie sich Sorgen machen.

 

Ich bestärke Frauen, sich dem Partner zu öffnen, nicht alles alleine tragen zu müssen, nicht mit allem alleine fertig werden zu müssen. Wichtige Entscheidungen sollten gemeinsam mit dem Partner gefällt werden.

 

 

 

In schweren Zeiten nach der Geburt empfehle ich jungen Eltern, sich eine Liste mit den Dingen zu machen, die sie von Anfang der Schwangerschaft bis zum jetzigen Zeitpunkt geschafft haben.

 

Viele Väter wissen nicht, wieviel stützende Kompetenzen sie haben, und wie wichtig sie für die Frau und werdende Mutter sind.

 

 

 

Ich mache darauf aufmerksam, dass Väter in ihrer Not nicht alleine sind und eine gute Beratung oder Therapie ein Schritt sein kann, um die bestehende Partnerschaft zu retten oder in schwierigen, spannungsreichen Beziehungen der Frau noch gut beistehen zu können.

 

 

 

 

 

 

 

Und die Angst?

 

 

 

Sie ist ein Wegweiser geworden, eine Freundin, die mir sagt, was mir nicht guttut,

 

Sie ist diejenige, die mich Angst im anderen erkennen lässt.

 

Heute bedanke ich mich für jede Minute, in der ich mich durch sie besser kennengelernt habe.

 

 

 

 

 

 

 

Ich bin schwach, weil ich schwach sein kann

 

Ich bin schön, weil ich nicht perfekt bin

 

Ich bin furchtlos, weil ich die Angst kenne

 

Ich bin klug, weil ich um meine Fehler weiß

 

Und ich kann lachen, weil ich die Traurigkeit kenne

 

(R.Gere)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anezeder Martina, aus dem Buch "Hilfe,  ich werde Vater" Ulrich Wanderer und andere, Morawa 2017